S. Jebrak: Mit dem Blick nach Russland

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Titel
Mit dem Blick nach Russland. Lydia Cederbaum (1878–1963). Eine jüdische Sozialdemokratin im lebenslangen Exil


Autor(en)
Jebrak, Svetlana
Erschienen
Bonn 2006: Verlag J.H.W. Dietz Nachf.
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann

Im Frühjahr 1905 traf Lydia Cederbaum in Genf ein und beteiligte sich an der Redaktionsarbeit der «Iskra» («Der Funke»). Diese Zeitschrift der russischen Sozialdemokraten im Exil wurde seit Ende 1903 von ihrer gemässigten Richtung, den Menschewiki, herausgegeben und stand in harter Konfrontation gegen deren radikale Fraktion, die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze. Lydia Cederbaum stammte aus einer aufgeklärt-jüdischen Familie in Odessa. Ihre jüdische Identität gab sie zeitlebens nicht auf. Politisch orientierte sie sich schon früh am Marxismus und an der Sozialdemokratie, so wie auch einige ihrer Geschwister, namentlich Julij Cederbaum, der unter dem Parteinamen Martov einer der Führer der Menschewiki wurde. 1905 hatte Lydia bereits mehrere Verhaftungen hinter sich und war gerade aus der Verbannung in Sibirien entflohen. Jetzt in Genf lernte sie sämtliche wichtigen russischen Politiker kennen. Alle verfolgten gespannt die revolutionären Ereignisse in Russland. Aber auch privat bedeutete der Aufenthalt in Genf für sie eine Wende: Hier lernte sie Fedor (Theodor) Dan näher kennen, den sie 1917 in zweiter Ehe heiraten sollte und der zu den prominenten Sozialdemokraten zählte. In Genf fand 1905 der dritte Parteitag der Menschewiki statt. Kurz darauf fuhren die meisten Emigrantinnen und Emigranten, darunter Cederbaum und Dan, nach St. Petersburg, um den dortigen Geschehnissen näher zu sein. Als sie ankamen, war allerdings der Höhepunkt der Revolution schon vorbei.

Im Juni 1907 wurde Lydia Cederbaum erneut verhaftet und musste nach der Freilassung emigrieren. Anfang 1908 kam sie wieder nach Genf und arbeitete im Redaktionskreis der «Golos Social’demokrata» («Stimme des Sozialdemokraten»), einer neuen Zeitung der Menschewiki. Da sich inzwischen das Zentrum der russischen Kolonie nach Paris verlagert hatte, zog die Redaktion im September 1908 dorthin. Cederbaum bekam in Frankreich ihr zweites Kind, eine Tochter, die schon 1917 sterben sollte (die Tochter aus erster Ehe lebte auch bei ihr, diese starb 1970). 1911 kehrte das Paar mit den Kindern nach St. Petersburg zurück. Den Ersten Weltkrieg mussten Cederbaum und Dan in der sibirischen Verbannung verbringen, aus der sie die Februarrevolution 1917 befreite. Cederbaum, die vorübergehend aus der Partei ausgetreten war, übernahm nach der Oktoberrevolution die Leitung des «Rates zum Schutz der Kinder», und auch Dan trat – trotz scharfen Gegensatzes zu Lenin – in den Sowjetdienst ein. 1919 und 1921 wurde dieser jedoch verhaftet, die Politik der bolschewistischen Regierung gegenüber den Menschewiki verhärtete sich. Anfang 1922 musste das Paar, ebenso wie andere Menschewiki, emigrieren. Lydia Cederbaum sollte Russland nicht mehr wiedersehen. Die wichtigsten Stationen ihres Exils waren Berlin, Paris und New York, wo sie auch starb.

Svetlana Jebrak hat für ihre hier veröffentlichte Heidelberger Dissertation umfangreiches Material aus zahlreichen Archiven in aller Welt zusammengetragen und die einzelnen Lebensphasen Lydia Cederbaums detailliert rekonstruiert. Wir erhalten das Bild einer sensiblen, starken und unermüdlich tätigen Frau, die trotz ihres «lebenslangen Exils» die Hoffnung auf eine bessere, gerechte Welt in Russland (wie anderswo) nicht aufgab. Obwohl sie sich nur kurze Zeit in der Schweiz aufhielt, erfahren wir viel über das Milieu der russischen Kolonie in Genf, über die Vernetzungen der Emigrantinnen und Emigranten, über ihre persönlichen Beziehungen und die Verbindungen nach Russland. Wer über das Leben und die Aktivitäten von Frauen in der russischen revolutionären Bewegung, über die Geschichte der Menschewiki oder über die Bedingungen des Exils arbeiten will, wird auf dieses Buch zurückgreifen müssen.

Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension zu: Svetlana Jebrak: Mit dem Blick nach Russland. Lydia Cederbaum (1878–1963). Eine jüdische Sozialdemokratin im lebenslangen Exil. Bonn, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 1, 2010, S. 161-162.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 1, 2010, S. 161-162.

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